Hassrede und Invektivität als Gegenstand der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie
Bausteine zu einer Theorie des Metainvektiven
Joachim Scharloth (Waseda University, Tokyo)
Scharloth, Joachim. „Hassrede und Invektivität als Gegenstand der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie: Bausteine zu einer Theorie des Metainvektiven“. Aptum, Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, Bd. 13, Nr. 2, 2017, S. 116-132. DOI.org (Crossref), https://doi.org/10.46771/9783967691566_3.
▤ Inhalt
[116]
1 Invektivität

Im August 2016 startet die Amadeu Antonio Stiftung im Auftrag des Bundesjustizministeriums eine Kampagne gegen Hassrede in Soziale Medien. Auch die Google-Tochter Youtube legt im September 2016 mit „#NichtEgal“ eine Initiative gegen Hass und Intoleranz im Netz auf. Schnell sehen sich beide Initiativen kampagnenförmigen Angriffen ausgesetzt, die insbesondere darauf zielen, den Kampf gegen Hassrede als Eingriff in die Meinungsfreiheit zu diskreditieren. So wendet sich Twitter-User @xEasyx an das #NichtEgal-Team mit der folgenden Nachricht: „Nicht mal der Duden kennt das Wort Hassrede #Nichtegal Neusprech auf Basis der AAS [Amadeu Antonio Stiftung, JS] - der Weg zur Meinungsdiktatur & Meinungsverfolgung“1.

Die Kritik entzündet sich einerseits an der semantischen Unschärfe des Begriffs, der etwa vom #NichtEgal-Team „Hassrede“ als „Verbreitung von Hass“, „Systematische Beschimpfung, böswillige Verächtlichmachung und Verleumdung“, „Aufruf zu Gewalt und Willkürmaßnahmen“ und „Verharmlosung von Intoleranz“ definiert wird2. Seine Extension kann demnach beinahe alle Aspekte herabsetzender Rede umfassen – von der Beleidigungen, über übertrieben emotionalen Sprachgebrauch bis hin zu rassistischen Äußerungen und Volksverhetzung. Diese nach Meinung ihrer Kritiker zu weite Bestimmung des bezeichneten Gegenstandsbereichs wird dadurch erst problematisch, dass die bezeichneten Gegenstände durch die konnotative und deontische Bedeutungsdimension des Ausdrucks entwertet werden. Denn immer geht mit der Bezeichnung Hate Speech/Hassrede eine negative Wertung des bezeichneten Kommunikationsmodus, seiner Inhalte und seiner Nutzer einher. Was als Hate Speech bezeichnet wird, erfährt also selbst eine Abwertung, durch die auch das Ansehen dessen, der eine als Hassrede kategorisierte Äußerung getätigt hat, bedroht. [116|117]

Der Begriff Hate Speech/Hassrede ist in den letzten Jahren durch die Debattenkultur und die Effekte des Web 2.0, im Kontext der Debatte um die steigende Zahl von Asylsuchenden und durch die Diskussionen um das sog. Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu einem zentralen Konzept des sprachkritischen Diskurses avanciert. Dabei hätte der semantischen Unschärfe als eine wesentliche Bedingung für die Strittigkeit des Konzepts durch Anlehnung an die Terminologisierungsversuche der Linguistik begegnet werden können. Denn Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie haben differenzierte Ansätze zur Konzeptualisierung des Phänomenbereichs entwickelt, die zur Präzisierung der Debatte beitragen könnten.

Gleichwohl offenbart die kurz skizzierte Debatte um die Anti-Hatespeech-Kampagnen eine wesentliche Dimension des Streitens über herabwürdigendes Sprechen: dass nämlich die Thematisierung selbst eine invektive Dimension hat, die dazu genutzt wird, soziale Ordnungsvorstellungen entweder kritisch zu thematisieren oder als hegemonial erscheinen zu lassen. Diese Dimension in den Blick zu nehmen und hinsichtlich ihrer soziokulturellen Funktion zu fassen, ist Thema dieses Beitrags.

Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über linguistische und sprachphilosophische Zugänge zu sprachlicher Herabsetzung gegeben werden (Abschnitt 2), ehe die Form und Funktionen der Thematisierung herabwürdigenden Sprechens als metainvektiv theoretisiert wird (Abschnitt 3). Eine exemplarische Analyse sprachlicher Praktiken innerhalb der Critical-Whiteness-Bewegung soll schließlich das heuristische Potenzial der Beschäftigung mit dem Metainvektiven als Medium der Aushandlung sozialer Ordnungsvorstellungen illustrieren (Abschnitt 4).

Dabei wird sich die Terminologie an der im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität – Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ entwickelten Konzepten orientieren (vgl. Ellerbrock et al. 2017). Der Begriff der Invektivität fungiert als zentraler Reflexionsbegriff, mit dessen Hilfe bislang von der Sprachwissenschaft disparat konstruierte Gegenstände wie Unhöflichkeit, Beleidigung, verbale Aggression und Hassrede in einen gemeinsamen Deutungshorizont gerückt werden können. Die gemeinsame Eigenschaft dieser lebensweltlichen Phänomene bezeichnen wir als das Invektive: In allen Fällen werden mittels verbaler oder nonverbaler Kommunikationsakte Bewertungen von Personen und Gruppen vorgenommen, die geeignet sind, die soziale Position der am kommunikativen Geschehen Beteiligten zu verändern, die negative bewerteten Personen oder Gruppen zu diskriminieren und ggf. auszuschließen. Ein einzelnes Kommunikationsereignis, in dem einer Person oder Gruppe eine abwertende Eigenschaft zugeschrieben wird, bezeichnen wir als eine Invektive. Auf der pragmatischer Ebene verbindet die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Invektiven eine gemeinsame Modalität sozialer [117|118] Interaktion und Kommunikation. Diese Modalität wird beispielsweise durch den Gebrauch von Schimpf- und Fluchphrasen, pejorativen Ausdrücken, Generalisierungen, Verabsolutierungen, Hyperbeln, Superlativen, Vorwurfsintonation etc. kontextualisiert (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977; Kallmeyer 1979; Spiegel 1985, 233-270). Die invektive Interaktionsmodalität ermöglicht nicht nur eine invektive Rahmung von Kommunikationsakten oder Situationen, sondern erlaubt es den Beteiligten, in der Kommunikation Emotionen relevant zu setzen bzw. Affektpraktiken glaubhaft zu vollziehen, und ist so eine wesentliche Bedingung für das Eskalationspotenzial invektiver Rede.

 

2 Linguistische und sprachphilosophische Zugänge zu sprachlicher Herabsetzung

Sprachliche Gewalt kann als universelles Phänomen, als Kehrseite der ordnungsstiftenden Kraft von Sprache verstanden werden. Jede Zuschreibung und jede Appellation ist aus dieser Perspektive ein Akt der Gewalt, wenn auch ein Akt, dessen Gewaltsamkeit zunächst keiner moralischen Beurteilung unterliegt -- dies ist eine der Thesen, die Sybille Krämer (2010) in ihren Überlegungen zur symbolischen Gewalt entwickelt. Weil jede Benennung eines Individuums, jede Subsummierung eines Einzelnen unter eine begriffliche Kategorie nur bestimmte Aspekte an diesem hervorhebe, es nur aus einer Perspektive heraus adressiere, konstruiere und sozial verfügbar mache, gehe die Evozierung von Ordnung im Medium der Sprache und die Realisierung von Gewalt Hand in Hand. Diese Gewalt freilich ist Bedingung der Möglichkeit des Sprechens und damit vorethisch.

Die linguistische Forschung hat sich mit dem hier mit Hilfe des Begriffs der Invektivität theoretisierten Phänomenbereich aus lexikalisch-semantischer, sprechakttheoretischer und gesprächslinguistischer sowie postruktural-diskursanalytischer Perspektive beschäftigt.3

Die Schimpfwortforschung beschäftigt sich zunächst mit dem Sammeln und Ordnen von pejorativem Wortschatz (bspw. Kapeller / Voigt 1964, Pfeiffer 1997, Nübling / Vogel 2004, Amann 2005). Da in der hier entfalteten Auffassung von sprachlicher Herabsetzung die herabsetzende Kraft sprachlicher Ausdrücke nicht daher rührt, dass die per se die Funktion haben, den Adressierten Merkmale mit negativer Konnotation zuzuschreiben, sind funktionale Ansätze, die Schimpfwörter als Ausdrücke mit idiomatischer Prägung (Feilke 1996) auffassen, anschlussfähiger. Demnach verdankt sich das invektive Potenzial von Schimpfwörtern ihrer Verwendung in typisierten [118|119] kommunikativen Kontexten und Situationen mit konventionalisierten pragmatischen Funktionen, ohne dass diese Funktion in jedem Gebrauch zwingend realisiert werden müsste. Umgekehrt bedeutet dies aber auch: Invektivität kann nicht nur mit einem begrenzten Repertoire sprachlicher Mittel realisiert werden. Das invektive Potenzial sprachlicher Ausdrücke ist vielmehr das Produkt situativer und gesellschaftlicher Kontexte sowie habitualisierter und ritualisierter Interaktionen.

Eine invektive Äußerung wurde in der sprachwissenschaftlichen Forschung auch als Sprechakt im Sinne Austins (1962) aufgefasst. Sprachliche Herabsetzung und Ausgrenzung ist dann ein Sprechakt der Zuschreibung einer negativ bewerteten sozialen Kategorie (Wagner 2001: 13ff., 2011, 2015).4 Entsprechend ist das Äußern von Wörtern – in der traditionellen Lesart der Austin’schen Theorie – intentionales Handeln. Die zahlreichen Sprachhandlungen zur Realisierung des Invektiven, die in einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung stehen, lassen sich teilweise anhand der Kommunikationsverben identifizieren; für das Deutsche beispielsweise beleidigen, beschimpfen, schmähen, verunglimpfen, kränken, verletzen, angreifen, demütigen, ärgern, reizen, schikanieren, provozieren, erniedrigen, foppen, hänseln, necken, lästern, herabsetzen, herabwürdigen, missachten, verhöhnen, verlachen, anpöbeln, schimpfen oder einschüchtern. Sprechakte setzen Bedingungen, unter denen künftige Handlungen als adäquat gelten und konstruieren so gesellschaftliche Wirklichkeit. Die fundamentale Funktion invektiver Sprechakte (in Anlehnung an Graumann / Wintermantel 2007) besteht in der Veränderung sozialer Hierarchien (Erniedrigung) und der Aufkündigung von Gemeinschaft (Trennung, Distanzierung). Damit Äußerungen gelingen, müssen sie einem sozialen Schema folgen, das u. a. soziale Rollen und Vorstellungen von institutioneller Autorität und Geltung einschließt. Äußerungen sprachlicher Gewalt müssen somit institutionalisierte und ritualisierte Verfahren realisieren, in denen nicht nur der Sprecher, sondern auch die Adressierten und ggf. auch ein Publikum dabei mitwirken, dass ein Invektive gelingt oder misslingt. Der sprechakttheoretische Zugriff bedarf entsprechend einer gesprächslinguistischen Erweiterung, die die Co-Konstruktionsleistung aller am invektiven Geschehen Beteiligten (Meier 2007, Bonacchi 2013) ebenso wie die Bedeutung der gemeinsamen Orientierung an invektiven Praktiken (Hutchby 2008) in den Blick nimmt.

Andere Invektiven wurden von der Sprachwissenschaft als Unhöflichkeit (Culpeper 1996, 2011, Bousfield 2008) konzeptualisiert: Diese wird dann – quasi als Spiegelbild zur Höflichkeitstheorie von Brown/Levinson (1987) – als gesichtsbedrohender Akt (face-threatening act) modelliert. Zentraler [119|120] Anker dieser Theorien ist der Face-Begriff von Goffman (1967): In der Interaktion sind die an ihr Beteiligten normalerweise darum bemüht, die Verhaltensstrategien der anderen Interaktandinnen und Interaktanden zu billigen und zu unterstützen und ihnen so ein konsistentes Selbstbild und damit einen positiven soziale Wert zuzuweisen. Sprachliche Gewalt besteht in dieser Perspektive darin, die Verhaltensstrategien der Interaktionspartner zu durchkreuzen oder explizit zu negieren.

Die bislang skizzierten Theorien sind größtenteils handlungstheoretisch fundiert: Die Intentionen und Interpretationen der an der Interaktion Beteiligten (und Dritter) sind entscheidende Parameter bei der Konstruktion von Beleidigungen, Herabwürdigungen, Ehrverletzungen etc. Poststruktural argumentierende Ansätze betonen hingegen stärker die diskursiven Bedingungen von Äußerungen und den Einfluss von Machtverhältnissen. Auch für sie ist Austins Theorie der Sprechakte ein wichtiger Bezugspunkt. In ihrer Lesart reproduzieren Sprechakte Schemata und aktualisieren damit auch die Rollen, Ordnungsvorstellungen und normative Verhaltensprinzipien, die in diesen wirksam sind. Die Intentionen sind den Handlungen jedoch nicht vorgängig und liegen nicht primär in der Sprecherin / dem Sprecher, sie sind vielmehr in die sozialen Konventionen des Sprechakts eingebettet. In der Bitte als sozialer Konvention liegt eine deontische Kraft, die ihre Erfüllung fordert. Sprache entzieht sich entsprechend zu einem gewissen Grad der Verfügungsmacht der Subjekte. Diese postsouveräne Subjektauffassung lenkt den Blick zum einen stärker auf die Produktionsbedingungen sprachlich-gewaltsamer Äußerungen, zum anderen geraten auch Arten invektiven Sprechens in den Fokus des Interesses, die auf Gruppen bezogen und über Gruppenzuschreibungen motiviert sind.

In Butlers (2006) Theorie der Hassrede (Hate Speech) ist Sprechen zentrales Medium der Subjektivierung. Subjekte handeln in dem Maße, wie sie in einem sprachlichen Feld konstituiert sind, das von sprachlichen (Un-)Möglichkeitsräumen begrenzt wird. Sprechen ruft damit immer strukturelle Herrschaftsverhältnisse auf, schreibt sie wieder ein und rekonstruiert damit die strukturelle Herrschaft. Das Invektive als Hatespeech ist in dieser Lesart die Konstitution eines (marginalisierten) Subjektes durch diskursive Mittel. Zwar ist das sprachliche Feld mit seinen Praktiken historisch gewachsen und gilt der Sprachgemeinschaft daher als selbstverständlich. Aufgrund der Notwendigkeit ihrer Aktualisierung im Vollzug aber besteht auch immer die Möglichkeit der Umwendung dieser sprachlichen Praktiken.

Zahlreiche Arbeiten zu Rassismus und Diskriminierung wurden auch von der Kritischen Diskursanalyse vorgelegt (Jäger 2007), in der die Ermöglichungsbedingungen von Aussagen auch aus normalismustheoretischer Sicht (Link 1998) reflektiert werden. Insofern invektive Praktiken immer [120|121] auch Subjektivierungspraktiken sind, die (zumindest seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts) von einem normalistischen Dispositiv mitgeformt werden, lassen sich diese Ansätze mit den eingangs referierten sprachtheoretischen Positionen anschließen.

Lann Hornscheidt (2013) verortet die Möglichkeit diskriminierenden Sprechens in einem Dispositiv transdependenter Machtverhältnisse, das strukturelle Diskriminierung hervorbringt. Diskursive Diskriminierungen sind demnach durch ein Dispositiv gerahmt, das die Möglichkeitsbedingungen für diese Formen diskursiver Diskriminierungen bereitstellt. Macht wird dabei vor allem als die Möglichkeit, Normalitätsvorstellungen zu generieren, aufgefasst und korreliert mit der Verteilung von Ressourcen, seien es symbolische oder materielle. Diskriminierung ist entsprechend nicht nur ein Akt persönlicher Intentionen und Verletzbarkeiten, sondern vor allem konstituierendes Merkmal sozialer Strukturen.

Das diesem Beitrag zugrundeliegende Konzept von Invektivität ist poststrukturalen Auffassungen verpflichtet, ohne die sprechakttheoretischen und gesprächslinguistischen Grundlagen über Bord zu werfen. Invektivität aktualisiert sich demnach unter den Bedingungen einer komplexen Verflechtung von (nicht notwendig intentional invektiver) Äußerung sowie Anerkennung und Bedeutungszuschreibungen durch Adressierte und beistehende Zeugen, wird gerahmt von Statuszuschreibungen und Anschlusskommunikationen und basiert auf den sprachlichen und diskursiven Ermöglichungsbedingungen invektiven Handelns und Sprechens.

 

3 Das Metainvektive: Phänomen und Funktion

Wenn der invektive Charakter einer Handlung nicht festliegt, sondern erst in der Anschlusskommunikation eine Verständigung darüber erzielt wird, ob ein Akt für die Beteiligten als invektiv gilt oder nicht, dann wird bereits deutlich, dass der Thematisierung des Invektiven eine zentrale Rolle bei dessen Konstituierung zukommt. Hatten beispielsweise die Gäste des 27. EuropAbend des AGA Norddeutscher Unternehmensverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistung e.V. am 26.10.2016 noch mehrheitlich gut gelaunt den Heimweg angetreten, so sorgten Aufnahmen aus der Rede, die in sozialen Netzwerken kursierten und von Massenmedien aufgegriffen und bewertet wurden, dafür, dass in den darauffolgenden Tagen die Aussagen Oettingers als invektiv wahrgenommen wurden: Politiker anderer Parteien bezeichneten die die Rede als rassistisch5, EU-Parlamentarier forderten den Rücktritt und begründeten dies damit, dass die Rede dem Amt [121|122] eines EU-Kommissars nicht angemessen gewesen sei6, und eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums zeigte sich verärgert über das in der Rede zum Ausdruck kommende Überlegenheitsgefühl7. Oettinger selbst sah sich genötigt, sich wenige Tage später für seine Äußerungen zu entschuldigen. Das Beispiel zeigt, dass die Thematisierung des invektiven Charakters der Rede selbst invektiven Charakter hatte und dazu führte, dass soziale Ordnungsvorstellungen kritisch reflektiert wurden. Im Folgenden soll diese Dimension des Invektiven als das Metainvektive begrifflich gefasst und hinsichtlich ihrer soziokulturellen Funktion untersucht werden.

3.1 Konzept des Metainvektiven

Der Phänomenbereich des Metainvektiven ist grundsätzlich so breit wie der invektiver Handlungen. Zu ihm zählen beispielsweise mit Geltungsansprüchen vorgetragene Invektivitätsbehauptungen als strategische Ressource im agonalen Feld („Das ging jetzt aber wirklich zu weit“, „Das war aber jetzt unter die Gürtellinie!“), identitätspolitische Positionierungen, die auf Effekte von invektivem Handeln Bezug nehmen („Du als Weißer kannst gar nicht Opfer von Rassismus werden!“), oder die Zuschreibungen invektiver Beudeutungsaspekte zu sprachlichen Ausdrücken in sprachkritischer Absicht („Das Wort ‚Fräulein‘ ist sexistisch.“).8

Diese Phänomene invektiven Handelns können insofern als eine eigene, von anderen Formen des Invektiven herausgehobene Gruppe betrachtet werden, als das Invektive selbst explizit thematisiert wird und damit zum Gegenstand von Reflexion und Debatte werden kann. Das mit dem Begriff der Metainvektivität verbundene Erkenntnisinteresse zielt auf die Effekte, die eine explizite Thematisierung des Invektiven für die jeweils historische Bestimmung seiner selbst9 und seine Funktionalisierungen hat. Zugleich haben die genannten Phänomene selbst invektives Potenzial: Die strategische Behauptung, beleidigt worden zu sein, drängt das Gegenüber in die Rolle des Täters, die identitätspolitische Positionierung impliziert eine Priviliegierung auf Kosten anderer aufgrund eines körperlichen Merkmals (Weißsein) und die sprachkritische Inviktivitätszuschreibung hat das Potenzial, alle Benutzer des Wortes Fräulein als Sexisten erscheinen zu lassen. [122|123] Die mit dem Begriff der Metainvektivität theoretisierten Phänomene sind also keine bloßen Reflexionen auf Invektivität, sondern gehören dem Phänomenbereich des Invektiven selbst an.

Der mit dem Begriff des Metainvektiven theoretisierte Phänomenbereich kann demzufolge zum einen von anderen Formen des Invektiven dadurch abgegrenzt werden, dass das Invektive explizit thematisiert wird. Zwar ist jeder invektive Sprachgebrauch ein Zitat vorgängiger Rede und vorgängiger Bedeutungen und insofern auch eine Thematisierung früherer Sprachgebräuche (Kuch 2010: 234-236, Krämer 2001). Die mit dem Begriff des Metainvektiven gefassten Phänomene allerdings thematisieren den invektiven Gehalt der Äußerung explizit. Von anderen Formen der Reflexion auf das Invektive – etwa der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen – unterscheiden sich die genannten Phänomene zum anderen dadurch, dass sie selbst invektives Potenzial haben. Dieses Potenzial speist sich aus dem deklarativen Charakter der Äußerungen. Dies soll freilich nicht heißen, dass nicht auch wissenschaftliche oder sprachphilosophische Arbeiten zum Phänomenbereich des Metainvektiven zählen können, insofern sie dominant als deklarativ rezipiert werden, wie dies bei den Arbeiten von Lann Hornscheidt teilweise geschieht. Auch Gerichtsurteile fallen in den Bereich des Metainvektiven, weil sie einerseits deklarativen Charakter haben, andererseits auch zu einer Positionierung der Beteiligten durch Verhängung von Strafen beitragen.

3.2 Analytisches Potenzial der Analyse metainvektiver Debatten

Warum sollte man sich mit dem Metainvektiven beschäftigen? Die im Folgenden zu präzisierende Hypothese lautet, dass durch metainvektives kommunikatives Handeln eine Debatte über das Invektive selbst initiiert werden kann, die in vielen Fällen Debatten über Normalität (Link 1998) und soziale Normen evoziert.

Jede Thematisierung des Invektiven ist zunächst einmal der Versuch seiner performativen Erzeugung. Die Behauptung, beleidigt worden zu sein, setzt das Invektive für die folgende Interaktion relevant, indem sie eine frühere Äußerung als herabwürdigend deklariert. Die Feststellung, dass eine Äußerung einen invektiven Charakter hatte, ist immer auch ein Thematisierung der Frage, welche sprachlichen Mittel und Praktiken als invektiv gelten und welche nicht. Diese Feststellung ist in vielen Fälle zugleich eine Vorwurfshandlung an die Person, die die vermeintlich herabwürdigende Äußerung getätigt hat. Der mit dem deklarativen Charakter verbundene Geltungsanspruch metainvektiver Äußerungen muss in vielen Fällen implizit oder explizit begründet werden. Dies geschieht häufig dadurch, dass die Beteiligten einzelne Dimensionen der Kommunikation als Ressource [123|124] für die Begründung oder Ablehnung des invektiven Charakters nutzen. Dazu zählen beispielsweise konventioneller Verfahren (sprachliche Mittel, kommunikative Rollen, konversationelle Normen), situativer Äußerungsaspekte (Äußerungsformen, Äußerungskontext, Sprecherpositionen, soziale Strukturen) und kommunikationsethischer Postulate (Modalitäten, Intentionen, Lizenzen, soziale Normen und Werte etc.) sowie Vorstellungen von Sprache und ihrer Wirkmacht.

Die folgende Begründung, warum das Lexem „Schlitzauge„ nicht gebraucht werden soll, setzt beispielsweise die Perspektive der Bezeichneten explizit relevant: „Es muss von allen Kommunizierenden anerkannt werden, dass Menschen, die so bezeichnet werden, dies als nervend, verletzend, ausgrenzend und rassistisch diskriminierend erfahren/erleben.„ (Nduka-Agwu / Hornscheidt 2013: 177) Implizit wird zudem eine autoritäre Sprecherposition reklamiert („Es muss … anerkannt werden„) und auf den Wert der Anerkennung der Würde des Gegenübers referiert. Eine widersprechende Äußerung wie „Seit wann ist ‘Schlitzaugen’ rassistisch, wenn man sich auf die Augenform bezieht und den Begriff nicht für die Person selbst benutzt?“10 ruft den Richtigkeitstopos11 auf und setzt damit eine epistemische Kommunikationsmodalität relevant.

Dieses Beispiel zeigt, dass in metainvektiven Debatten in vielfacher Hinsicht auf Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung und auf die Vorstellungen davon, wie sich diese Ordnung konstituiert, referiert wird. So gerät im Beispiel nicht nur die Frage nach Sprecherrollen, Sprecherpositionen, Lizenzen und sozialen Werten als Dimensionen sozialer Ordnung in den Blick, sondern implizit auch die Frage, welche Rolle symbolische Praktiken bzw. die ‚objektive Realität‘ für die Konstitution dieser Ordnung spielen. Neben der Verhandlung der Frage, ob Äußerungen invektiven Charakter haben oder nicht, haben metainvektiven Debatten also immer auch das Potenzial, die selbstverständliche Konventionalität der Alltagswelt zu erschüttern und gesellschaftlicher Normalitäts- und Ordnungsvorstellungen reflexiv werden zu lassen. Metainvektive Debatten sind damit auch Medien, in denen soziale Ordnungsvorstellungen und die Mechanismen ihrer Konstitution verhandelt werden können. Werden sie absichtlich initiiert, können sie eine strategische Ressource für politische Zwecke sein. Dann stellt sich die Frage, welche der Dimensionen von Kommunikation in metainvektiven Debatten aus welchen Gründen strittig und welche ggf. unstrittig sind, welche Dimensionen im Verlauf von Debatten aus welchen Gründen marginalisiert und welche hegemonial werden. [124|125]

Da das, was als invektiv gilt, von je zeitspezifischen sozialen Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen mitkonstituiert wird, erlaubt die Rekonstruktion der Ermöglichungsbedingungen invektiver Aussagen auch eine Rekonstruktion der zeitspezifischen Extensionen des Invektiven. So zeigt beispielsweise ein Blick auf die Liste jener „-ismen„, die in den letzten Jahren explizit zur Bezeichnung von Diskriminierungspraktiken geprägt wurden, dass die Menge der als marginalisiert geltenden Subjektpositionen, die potentiell Objekt diskriminerender Äußerungen sein können, sich ausgedehnt hat (Rassismus, Sexismus, Ableismus, Klassismus, Lookismus, Speziezismus). Ähnliches gilt für die Frage der Mittelbarkeit der Wirkung des Invektiven: Dass das Vorkommen eines als rassistisch geframeten Lexems in einem historischen Text als invektiv aufgefasst werden kann, weswegen sich auch dessen Zitierung verbietet, ist erst in den vergangenen 20 Jahren verstärkt Thema in metainvektiven Debatten.

Metainvektives Handeln hat demanch einerseits das Potenzial, die Grenzen zwischen invektiven und nicht-invektiven Formen und Praktiken zu verschieben, andererseits werden in den Argumenten für oder gegen das invektive Potenzial bestimmter sprachlicher Mittel und Praktiken auch die Ermöglichungsbedingungen invektiver Sprechakte zum Thema (bspw. konventionalisierte Verfahren, Rollen, Sprecherpositionen, Agency etc.) und mit ihnen Vorstellungen von gesellschaftlicher und kultureller Ordnung. Durch die Beschäftigung mit metainvektiven Debatten kann somit die je zeitspezifische Extension des Invektiven untersucht, können kulturelle und soziale Ordnungsvorstellungen analysiert und schließlich auch der Frage nachgegangen werden, unter welchen Bedingungen Vorstellungen von sozialer Ordnung hegemonial werden und andere marginalisiert werden.

Ein Beispiel für eine solche metainvektive Debatte im Umfeld der antirassistischen Bewegung soll illustrieren, inwiefern die Analyse solcher Debatten es ermöglicht, Einblicke in soziale Ordnungsvorstellungen der an ihnen Beteiligten und die Prozesse ihrer Aushandlung zu erhalten.

 

4. Beispiel: Critical Whiteness

Vom 14. bis 21.7.2012 fand ein „No Border Camp“ in Köln statt, das vom „No Border Netzwerk“ veranstaltet wurde, einem – gemäß Selbstdarstellung – Netzwerk antirassistischer Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Europa ist, das für eine umfassende Niederlassungsfreiheit und die Aufhebung bestehender Grenzen eintritt.12 Das Camp sollte dazu dienen, im [125|126] Rahmen von Vorträgen, Workshops und Plenen die Situation von Geflüchteten, die Funktion von Grenzen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Migration zu reflektieren, aber auch durch Demonstrationen, Stadtspaziergänge und Konzerte Erfahrungen von und Aktionen gegen Grenzregime zu ermöglichen. Im Verlauf des Camps kam es jedoch zu erheblichen Konflikten zwischen unterschiedlichen Gruppen der antirassistischen Szene. Diese entzündeten sich insbesondere auch an der Frage, unter welchen Umständen Äußerungen als rassistisch zu gelten haben – einem genuin metainvektiven Thema also.

Diese Konflikte konkretisierten sich zuerst beim Auftaktplenum zum Critical Whiteness Workshop-Tag, in dessen Rahmen die Berliner Gruppe „Reclaim Society“ (RS) eine radikale Gesamtkritik der Zustände auf dem Camp, insbesondere an weißen Dominanzstrukturen äußerte.13 Sie warf den weißen Teilnehmenden vor, schon durch ihre gesellschaftliche Positionierung als Weiße rassistisch zu sein. Deshalb sollten sie sich primär mit dem eigenen Rassismus auseinandersetzen, statt im Namen anderer gesellschaftlichen Rassismus aktionistisch zu bekämpfen. Schon im Vorfeld hatte RS in einem Positionspapier gefordert, Weißseins als grundsätzlich rassistisch anzuerkennen: „Wir weiße (Personen), unsere Körper, unsere Stimmen, unsere Gedanken sind immer rassistisch. (…) Entweder wir werden angefragt oder wir halten den Mund!“14 Das Auftreten von RS auf dem Camp veränderte die Kommunikation – das legen Berichte aus dem Camp nahe – entscheidend; offenbar wirkte der Vorwurf, sich noch nicht hinreichend mit dem eigenen Rassismus auseinandergesetzt zu haben, selbst invektiv auf viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer des sich als antirassistisch verstehenden Camps.

Ein Mittel der Aushandlung der Grenzen zwischen invektivem und nicht-invektivem Sprechen im Rahmen des Lagers war das Stopp-Zeichen, ein Handzeichen, das zur Unterbrechung des Diskussion führen sollte. Dessen Funktion erläuterten die Organisatorinnen und Organisatoren des Camps auf ihrer Website:

Das „Stopp“-Zeichen kann eine Person anwenden, wenn das gerade Gesagte für sie strukturelle Gewalt bedeutet, d. h. Wenn sie sich rassistisch und/oder sexistisch (…) verletzt sieht. Der verletzende Redebeitrag wird an der Stelle abgebrochen. Es liegt in der Hand der Person, die das Zeichen angewendet hat, ob sie sich erklären will oder nicht. Die Person kann auch eine andere Person für sich sprechen lassen, wenn sie das möchte. Die Erklärung [126|127] soll nicht weiter kommentiert, sondern stehen gelassen werden, da in solchen Fällen nicht selten Abwehrmechanismen greifen, die ein Zuhören verhindern.15

Die Gruppe „NoLager Bremen“ kritisierte im Nachgang zum Camp auf der Plattform Linksunten/Indymedia, das Stopp-Zeichen sei von den Critical Whiteness-Aktivisten missbraucht worden, um selbst People of Color „allen Ernstes zu erklären, dass sie weißer als Weiße aus Europa sein und daher ebenfalls Rede-Stopps erhalten könnten – jedenfalls dann, wenn sie vorgeblich weiße und somit falsche Positionen vertreten würden.“ Weiße hätten dagegen „mit der gleichen Entschiedenheit und Wut auftreten“ können, wie ihre „‚echten‘ PoC-KollegInnen“.16

Den rassistischen Gehalt einer Äußerung bestimmten die Aktivistinnen und Aktivisten von Reclaim Society demnach mit den negativen Konsequenzen für Betroffene, die freilich (auch) von jenen taxiert werden können, die eine ideologisch begründete Sprechpositionen einnehmen. Diese Position ist im Wesentlichen dadurch definiert, vermeintlichen strukturellen Rassismus erlitten zu haben oder durchschauen zu können und daher selbst als Opfer diskriminierender Praktiken oder stellvertretend für diese und in deren Namen sprechen zu können. Bemerkenswert ist, dass die Person, die eine metainvektiv als diskriminierend gekennzeichnete Äußerung getätigt hat, sich nicht dazu äußern, geschweige denn gegen den vermeintlich invektiven Charakter der Äußerung argumentieren durfte. Durch diese Reglementierung der Anschlusskommunikation erhält jene Person, die einen Akt als invektiv deklariert die Lizenz zur Festlegung der Bedeutung eines Ausdrucks und damit einhergehend auch zur Festlegung jener sozialen Bedingungen, die diese Bedeutung strukturell hervorbringen. Die Rede von struktureller Gewalt ermöglichte es zudem, von den involvierten Personen, ihren Intentionen und Affekten, zu abstrahieren und die invektive Kraft auch als Qualität einzelner Äußerungsformen zu fassen. So wurde ein Aktivist aus Nigeria wegen der Verwendung der Lexeme „victim/Opfer“ kritisiert, dagegen sei es diskriminierungsfrei von „negativ von Diskriminierung Betroffenen“ zu sprechen.17

Weiter kritisierte NoLager Bremen, dass es üblich geworden sei „sich vor einem mündlichen oder schriftlichen Redebeitrag selbst zu positionieren und somit die eigene Verortung im Rahmen gesellschaftlicher Entrechtungs- [127|128] oder Privilegierungsverhältnisse explizit sichtbar zu machen.“18 Die Darstellung der eigenen gesellschaftlichen Positionierung sollte also helfen, ein Bewusstsein für diese Positionierung bei Sprechern und Zuhörern zu schaffen und dadurch die Zahl implizit rassistische Äußerungen zu verringern. Die Gruppe nennt auch ein Beispiel einer solchen Positionierungspraktik: „ich spreche aus weißer Perspektive, bin frauisiert, profitiere von meiner Mittelschichtsherkunft und Ableism, erhalte Bafög und studiere.“19 Die Verweigerung der Selbstpositionierung oder nicht korrekt vorgetragene Selbstpositionierungen hätten zu Sprachkritik und Anfeindungen geführt.

Der korrekte Vollzug dagegen thematisiert in vielerlei Hinsicht soziale Ordnungsvorstellungen und erklärt die jeweils genannten für relevant im Hinblick auf die Qualität der folgenden Rede aber auch im Hinblick auf die Beziehungen der Beteiligten untereinander. Die so erzwungene Selbstpositionierung wird damit auch zu einer Ressource zur Generierung der Anerkennung dessen, was im Sinn der Critical Whiteness als strukturell rassistisch zu gelten hat: Weiß sein, uneingeschränkt über seinen Körper verfügen können, der Mittelschicht entstammen, Bafög empfangen – all dies hat für die Mitglieder von Reclaim Society eben auch ein invektives Potenzial gegenüber jenen, die anders positioniert sind. Der Vollzug solcher Positionierungspraktiken hat auch das Potenzial, die Extension des Invektiven zu verändern, indem im Medium dieser Praktiken eine Verständigung darüber hergestellt wird, welche Subjektpositionen als privilegiert oder marginalisiert zu gelten haben und welche nicht. So ist es durchaus denkbar, dass Bafög zu empfangen für einige Teilnehmer vorher kein Zeichen von Privilegierung war.

Die strikte Beschränkung der Anschlusskommunikation im Fall der Stopp-Zeichen einerseits und der Druck zum korrekten Vollzug von Selbstpositionierungen vor Redebeiträgen erwiesen sich als effektive Methoden zur Verpflichtung der Camp-Teilnehmer auf soziale Ordnungsvorstellungen.  Einige Teilnehmende klagten freilich über eine „Atmosphäre der Angst und der Beklommenheit“20, was ein Beleg dafür ist, dass metainvektives Handeln immer auch mit der Aushandlung und Ausagierung von Macht verknüpft ist. Ein weiterer Beleg dafür ist, dass ein Ausweg aus der verfahrenen Situation der antirassistischen Szene aus der Sicht von NoLager [128|129] Bremen nur durch die Entschärfung des Metainvektiven zu bewerkstelligen ist:

„Es muss […] eine Gesprächsatmosphäre geschaffen werden, in der Argumente, Fragen oder Kritiken angst- bzw. unterbrechungsfrei formuliert werden können – auch dann, wenn das Gegenüber mit der Position explizit nicht einverstanden ist oder den Eindruck hat, dass in einem Statement problematische, mithin diskriminierende Anteile mitschwingen könnten.“21

 

5 Fazit

Stopp-Zeichen und Selbstpositionierung waren im Rahmen des No Border Camps demnach metainvektive Praktiken, die zunächst darauf gerichtet waren, das Ausmaß sprachlicher Diskriminierungen zu verkleinern und Diskriminierung sichtbar zu machen. Bei der Thematisierung invektiver Praktiken und der Begründung ihrer invektiven Qualität wurde jedoch in beiden Fällen auf Vorstellungen von sozialer Ordnung, insbesondere auf Sprecherrollen und Sprechpositionen, Bezug genommen. Der Vollzug dieser metainvektiven Praktiken im Rahmen der Debatte hat diese Ordnungsvorstellungen durch Kritik und Ausschluss realisiert, die Beteiligten auf ihre Anerkennung verpflichtet und so - zumindest für die Anwesenheitsgemeinschaft der Camp-Teilnehmenden - auch die Extension des Invektiven in spezifischer Weise festgelegt, wenn nicht gar verändert.

Diese exemplarische Analyse hat gezeigt, dass metainvektive Debatten ein wichtiges, wenn nicht gar zentrales Studienfeld sind, wenn man den Funktionen des Invektiven für die Konstitution und Veränderung sozialer Ordnung auf die Spur kommen will. Das Metainvektive ist das Scharnier, über das soziale Ordnungsvorstellungen und das Invektive in seiner je zeitspezifischen Ausprägung miteinander verbunden, ja aufeinander bezogen sind.

 

Literatur

Aman, Reinhold (2005): Bayrisch-österreichisches Schimpfwörterbuch. München: Allitera-Verlag.

Austin, John L. (1962/1975): How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955. Herausgegeben von James Opie Urmson u. Marina Sbisà. Zweite, verbesserte Auflage. Oxford: Clarendon Press.

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Fußnoten