Stadt als Protestraum
Joachim Scharloth (Waseda University, Tokyo)
Scharloth, Joachim. "Stadt als Protestraum" Zeitschrift für germanistische Linguistik, vol. 47, no. 2, 2019, pp. 337-354.
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Abstract
This article is concerned with the question why and how urban space becomes a space of protest and contestation. It argues that protest transforms urban space into an alternative space, in which the conventional practices associated with this space, the space's symbolic functions and the concepts of space itself are interpreted as means to create power. Protest ermerges where the constitutive characteristics of public spaces are restricted, i.e. where accessibility, freedom of conduct and role diversity, and anonymity are limited. After laying the theoretical foundations, the article discusses the typical functions of squares (gatherings and rallies), streets (marches and demonstrations), and parks (festvials, preparation, recreation) for urban protests. It finally discusses the protest practices of the black block, of the occupation of squares, and of Reclaim the Streets in the light of the theories of urban space.
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1. Raum und Macht – einleitende Bemerkungen

Raum wird beständig konstruiert. Gegen die physikalische und philosophische Theorien verkürzende Alltagsvorstellung vom Raum als Behälterraum, in dem sich soziale Prozesse ereignen (Löw 2001: 27), hat der französische Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre Raum als durch soziale und kulturelle Praktiken hervorgebracht beschrieben: „(Social) space is a (social) product“ (Lefebvre 1991: 26). Der natürliche, physikalische Raum ist für ihn lediglich das Rohmaterial, aus dem die Produktivkräfte unterschiedlicher sozialer Systeme ihre eigenen Räume geschmiedet haben (vgl. Lefebvre 1991: 31). Raum entsteht dabei aus dem Zusammenwirken dreier Dimensionen einer Triade: der räumlichen Praxis (alle Formen der Produktion und Reproduktion von Raum), den Repräsentationen von Raum (als theoretisierter und konzeptuell erfasster Raum) und dem Raum der Repräsentation (durch Symbole und Bilder vermittelter Raum) (vgl. Lefebvre 1991: 33). In Lefebvres Perspektive ist der so konstruierte Raum nicht nur ein Werkzeug des Denkens und Handelns („a tool of thought and of action“), er ist auch „a means of control, and hence of domination, of power“ (Lefebvre 1991: 26).

In diesem Beitrag geht es um die Frage, wie und warum städtischer Raum zum Protestraum wird, zu einem alternativen Raum also, in dem traditionelle Praktiken, Raumkonzepte und symbolische Vermittlungen als Produzenten von Macht im Sinne Lefebvres gedeutet und kritisiert werden. Hierfür wird zunächst Stadt als öffentlicher Raum charakterisiert (Abschnitt 2), ehe jene Dimensionen des öffentlichen Raums diskutiert werden, die teilweise Beschränkungen unterworfen sind und an denen Protest sich häufig kristallisiert (Abschnitt 3). Im Anschluss wird die Funktion von Plätzen, Parks und Straßen als Protestarenen in den Blick genommen, die für die Stadt als Protestraum besonders relevant sind (Abschnitt 4). Schließlich sollen die Protestformen des Schwarzen Blocks, von Platzbesetzungen und von Reclaim the Street vor dem Hintergrund der entwickelten Raumtheorien gedeutet werden (Abschnitt 5).

 

2. Stadt als öffentlicher Raum

Die Öffentlichkeit, verstanden als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (Habermas 1962: 42) avancierte seit dem späten 17. Jahrhundert zu einem Medium, in dem die Interessen der vielen Einzelnen zum öffentlichen Interesse wurden, das über Parlamente zu Gesetz oder staatlichem Handeln werden konnte. Das Strukturprinzip Öffentlichkeit setzte von Anfang an „Straßen [338|339] und Plätze, öffentliche Orte der Versammlung und der Kommunikation“ voraus (Schäfers 2008: 151).

Die Stadt als öffentlicher Raum wird in der Stadtsoziologie meist bezogen auf die Relation öffentlich vs. privat definiert. Der Oldenburger Stadtsoziologie Walter Siebel unterscheidet fünf Dimensionen (Siebel 2004: 14f.), nach denen sich der öffentliche Raum bestimmen lässt.

Im Hinblick auf die Funktion ist der öffentliche Raum Markt und Ort der Politik; der private Raum dagegen dient der Produktion und Reproduktion. Hinsichtlich des sozialen Verhaltens ist die Öffentlichkeit der Raum der Stilisierung und Distanzierung, des Formellen und des sozial Akzeptierten, die Vorderbühne im Sinne Goffmans (1959); das Private ist für Goffman dagegen ein Ort der potenziellen Autonomie, in dem der Einzelne soziale Normen abstreifen und seine Individualität entfalten kann, die Hinterbühne. Stadttypisches Verhalten ist Ergebnis des Marktes, der in der Stadt – folgt man Siebel – durch unvollständige Integration charakterisiert ist. Diese unvollständige Integration hat ihre Ursachen darin, dass das Spannungsverhältnis aus sozialer Distanz und körperlicher Nähe Begegnungen zwischen Menschen ermöglicht, die notwendigerweise unterbestimmt bleiben und sich nur unter der Prämisse der gegenseitigen Anerkennung einer sinnstiftenden Individualität überhaupt aushalten lassen.

In juristischer Hinsicht unterliegen öffentliche Räume dem öffentlichen Recht, für private Räume hingegen gilt das Hausrecht. Aus dem Eigentumsrecht lassen sich zudem andere Grenzen des Zugangs zu und der Nutzung von privaten und öffentlichen Räumen ableiten. Hinsichtlich der materiell-symbolischen Dimension hat sich „ein breites Repertoire an architektonischen und städtebaulichen Elementen“ entwickelt, das „Zugänglichkeit resp. Exklusivität von Räumen“ (Siebel 2004: 14f.) und dem damit verbundenen Verweis auf die funktionalen, sozialen und juristischen Differenzierungen signalisiert. Hinsichtlich der normativen Dimension gilt für öffentliche Räume die Leitidee der durchgesetzten Demokratie, die eine gleichberechtigte Partizipation und damit auch einen unbeschränkten Zugang zum öffentlichen Raum beinhaltet. Die Privatheit dagegen „ist die Sphäre des freien Unternehmers als dem Inbegriff des ökonomisch selbstständigen Individuums und der (Wohn-)Raum der bürgerlichen Familie und damit des Glücksversprechens lebenslanger Vertrautheit und Liebe“ (Siebel 2004: 15).

Öffentliche Räume zeichnen sich im Unterschied zu privaten Räumen demnach vornehmlich durch drei Merkmale aus: Sie sind für Angehörige aller gesellschaftlichen Gruppen allgemein zugänglich; sie sind trotz der Normierung und Stilisierung Orte der Verhaltensoffenheit als Folge der unvollständigen Integration und ermöglichen so Rollenvielfalt; und sie ermöglichen damit verknüpft auch Anonymität (vgl. Neumann 2016: 78). [339|340]

 

3. Der städtische öffentliche Raum und seine Beschränkungen

„Die Stadt konnte bisher nur der Kampfplatz der geschichtlichen Freiheit sein und nicht deren Besitz.“
(Debord 1978, These 176)

Der so charakterisierte öffentliche Raum ist freilich zahlreichen Beschränkungen unterworfen, die hybride Zwischenformen hervorbringen. Man denke an Shopping-Malls, die die Funktion des Marktes haben, aber gleichwohl juristisch nicht nach den Normen des öffentlichen Rechts geregelt sind, oder an Bahnhöfe, in denen die Anonymität durch Überwachungskameras und die Möglichkeit anlassloser polizeilicher Identitätskontrollen potentiell eingeschränkt ist. Im Folgenden soll entlang der oben entwickelten drei Merkmale öffentlicher Räume gezeigt werden, welchen Einschränkungen sie unterworfen sein können. Diese Einschränkungen, so wird sich später zeigen, umfassen zugleich jene Dimensionen des öffentlichen Raums, die Ansatzpunkte für Protest bilden.

Die erste Einschränkung des öffentlichen Raums betrifft seine Zugänglichkeit und die Möglichkeiten seiner Aneignung. Sie generiert soziale Ungleichheit. „Der angeeignete Raum ist einer der Orte, an denen Macht sich bestätigt und vollzieht, und zwar in ihrer sicher subtilsten Form: der symbolischen Gewalt als nicht wahrgenommener Gewalt. Zu den wichtigsten Komponenten der Symbolik der Macht (…) gehören zweifellos die architektonischen Räume“ (Bourdieu 1991: 27f.) In Bourdieus Raumtheorie bedingen sich Verfügungsgewalt über den Raum und die soziale Position gegenseitig. „Herrschaft über den Raum bildet eine der privilegiertesten Formen von Herrschaftsausübung“ (Bourdieu 1991: 30).

Die offensichtlichste Einschränkung, die ungleiche Aneignungsmöglichkeiten von physischem Raum hervorbringt, ist die Teilung des Raumes in einen öffentlichen und privaten und ihre subtilen Zwischenstufen. Sie werden von Bourdieu als Okkupations- und Raumbelegungsprofite theoretisiert. Diese ergeben sich aus der Fähigkeit, physischen Raum zu besitzen und den Zugang zu diesem Raum auf einen Kreis erwünschter Personen einzuschränken und sich andere Dinge oder Menschen auf Distanz zu halten (vgl. Bourdieu 1991: 31). Eine zweite Form von Raumprofiten ist die Situationsrendite, die sich „aus der Ferne zu unerwünschten Dingen und Personen beziehungsweise durch die Nähe zu seltenen und begehrten Dingen (Gütern und Dienstleistungen wie schulische, kulturelle und sanitäre Einrichtungen) und Personen (eine bestimmte Nachbarschaft impliziert Zuwachs an Ruhe, Sicherheit und so weiter)“ (Bourdieu 1991: 31) ergibt. Positions- oder Rangprofite als dritte Form ergeben sich beispielsweise aus einer renommierten Adresse oder eine Nähe zu zentralen öffentlichen Räumen (bspw. zentrumnahes Wohnen). In die strukturellen Bedingungen des öffentlichen Raums [340|341] haben sich also Ordnungs- und Machtstrukturen eingeschrieben (vgl. Neumann 2016: 60).

Die Einschränkung der Zugänglichkeit und die Möglichkeiten der Aneignung von Raum, der zwar privat verwaltet wird, aber auch Funktionen des öffentlichen Raums übernimmt (der sog. privately owned public space), hat in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen. So ist die Zahl der Platzverweise wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch Personen, die nach Meinung von Geschäftsinhabern und Anwohnern nicht ins Straßenbild passen, deutlich angestiegen. Straßencafés haben sich auf öffentliche Plätze ausgebreitet, Wartebereiche in Bahnhöfen wurden durch Gastronomiebetriebe ersetzt, in denen Reisende nur Anspruch auf einen Platz haben, wenn sie etwas verzehren. Private Hallenspielplätze für Kinder, die Zutritt nur gegen Gebühren ermöglichen, haben sich in allen größeren Städten etabliert. In dieser von der Stadtsoziologie als Kommerzialisierung und Privatisierung (Neumann 2016: 92-94) beschriebenen Entwicklung tritt an die Stelle „der öffentlich-rechtlich verfassten Kommune (…) die privat-rechtlich organisierte Vertragsgemeinschaft der Eigentümer; anstelle der öffentlichen Planung die Produktion der Stadt durch private Developer; anstelle der politischen Administration ein privates Management“ (Siebel 2010: 124).

Neben der Einschränkung der Zugänglichkeit und den Möglichkeiten der Aneignung gibt es auch Einschränkungen der Verhaltensoffenheit und damit auch der Rollenvielfalt in öffentlichen Räumen. Diese verdanken sich der normierenden und disziplinierenden Wirkung, die Räume auf Gruppen haben können.

Der britische Soziologe Anthony Giddens hat in seiner Raumtheorie herausgearbeitet, dass „das raumzeitliche ‚Einfassen‘ von Gruppen von Individuen in abgegrenzte Orte, wo die kontinuierliche Beaufsichtigung unter Bedingungen von Kopräsenz geleistet werden kann“ (Giddens 1997: 212) ein Mittel zur Generierung disziplinierender Macht ist. Der Raum wird so zu einer Machttechnologie. Neben dieser Theorie der disziplinierenden Funktion des Raums hat Lefebvre (1991) mit seinem Konzept des spatial consensus eine Theorie entwickelt, die eine zwanglosere Unterwerfung des Einzelnen unter die Normen des sozial konstruierten Raums bedingen. Das Konzept erläutert er am Beispiel der bürgerlichen ruhigen Gegend.

Demnach verfügen alle Räume über eine spezifische Raumökonomie. In dieser Ökonomie wird der Wert von Beziehungsformen zwischen Menschen bestimmt. In Cafés beispielsweise werden andere Beziehungsformen favorisiert als in einer Kneipe, in einer Boutique andere als in einem Kaufhaus. Dies wirkt sich auf die Konnotationen aus, die mit einem Raumtyp assoziiert werden. Sie generieren einen Konsens darüber, welche soziale Bedeutung der Raum erhält; ob es sich beispielsweise um eine ruhige Gegend handelt oder um einen Ausgehbezirk: „such and such a place is supposed to be trouble-free, a quiet area [341|342] where people go peacefully to have a good time, and so forth.“ (Levebvre 1991: 57) Diese Bedeutung des Raums wirkt sich wiederum normierend auf die Aneignungspraktiken aus. Im Fall der bürgerlichen, ruhigen Gegend impliziert dies einerseits „a tacit agreement, a non-aggression pact, a contract […] of non-violence“, aber auch, dass es keine Konflikte um die Nutzung des Raumes geben soll und daher andere proxemische Standards gelten: „spaces are to be left free, and wherever possible allowance is to be made for 'proxemics' – for the maintenance of 'respectful' distances.“ (Levebvre 1991: 57)

Auch die Möglichkeit zur Anonymität als drittes Merkmal, durch das sich der öffentliche vom privaten Raum unterscheidet, ist Einschränkungen unterworfen. Immer häufiger werden dort, wo der öffentliche Raum als gefährlicher Raum, als Raum potentieller Straftaten gilt, institutionalisierte Kontrollregimes eingeführt. So erklärte im Januar 2014 die Hamburger Polizei nach gehäuften Angriffen auf Polizeibeamte und Einrichtungen der Polizei mehrere Hamburger Stadtteile zu Gefahrengebieten.1 Gefahrengebiete oder gefährliche Orte, wie sie im bayerischen Polizeigesetz heißen, sind Teile des öffentlichen Raums, von denen auf der Basis polizeilicher Erkenntnisse anzunehmen ist, dass in ihnen Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden. Das Ausweisen von Gefahrengebieten gestattete der Polizei, jede Person in diesem Gebiet kurzfristig anzuhalten, sie zu befragen, ihre Identität festzustellen und sogar zu durchsuchen. Erklärung von Alternativen Zentren und Demonstrationen zu temporären gefährlichen Orten, um Identitätsfeststellungen zu ermöglichen (vgl. Ulrich / Tullney 2012) und das Demonstrationsgeschehen filmen zu können, sind ebenfalls gängige Praxen (vgl. Ulrich 2012).

In solchen gefährlichen Orten werden aber nicht nur Personenkontrollen zur verdachtsunabhängigen Identitätsfeststellung und Ordnungsrazzien als Repressionsmaßnahmen (vgl. Schmidt 2011: 180) durchgeführt. An gefährlichen Orten werden auch Kameras installiert, um Videodaten zu generieren. Schilder weisen an diesen Orten auf die Überwachung hin und verweisen auf die prinzipielle Deanonymisierbarkeit jeder Person, die diese Orte betritt. Auch andere Sensoren liefern Daten an gefährlichen Orten, etwa die FootPath-Technologie, die Bewegungen in Einkaufszentren trackt und zusammen mit Social Media Daten eine Deanonymisierung ermöglicht. Schließlich werden gefährliche Orte auch so umgestaltet, dass in ihnen kein Verbergen mehr möglich ist. Nischen werden baulich geschlossen oder durch das Anbringen von Kameras visuell ausgeleuchtet.

So tendieren deanonymisierende gefährliche Orte zu jenem Raumtyp, den der französische Anthropologe Marc Augé als Nicht-Orte charakterisiert hat, Durchgangsorte, [342|343] Orte ohne Aufenthaltsqualität, kommunikativ verwahrloste Orte der Einsamkeit. „Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“ (Augé 1994: 121)

Diese drei Techniken der Beschränkung des öffentlichen Raums führen insgesamt dazu, dass öffentliche Räume ihre Funktion als Orte der Differenz und der Vielfalt einbüßen können. Orte, an denen diese Techniken durch staatliche Institutionen oder privatwirtschaftliche Unternehmen praktiziert werden, sind aber zugleich Orte, an denen sich Protest kristallisieren kann.

Diesen eher allgemeinen theoretischen Überlegungen zur Hervorbringung, Aneignung und Beschränkung öffentlicher Räume sollen im Folgenden konventionalisierte Formen städtischer Architektur zur Seite gestellt werden, die als prototypische öffentliche Räume gelten können.

 

4. Städtische Arenen als Protesträume

Von allen öffentlichen Räumen hat wohl die Gestaltung von Plätzen, Parks und Straßen die größte Aufmerksamkeit von Stadtplanern und Architekten erfahren.

In baulicher Perspektive ist der Platz durch die Gruppierung von Häusern um einen offenen, unbebauten Raum herum definiert. Dieses Arrangement ermöglicht ein hohes Maß an Kontrolle über den Innenraum und zugleich seine Verteidigung gegen Angriffe von Außen. Als Symbol dieser Eigenschaften avancierte dieser Typus eines Hofraums zum Modell verschiedener heiliger Orte wie der Agora oder dem Forum. Er wurde auch zum Vorbild öffentlicher und privater Bauten, die um Innenhöfe bzw. Atriums herum gebaut wurden. Der heutige säkulare Platz in Stadtzentren ist häufig von Regierungsgebäuden, Ämtern, Museen, Kirchen oder Konzerthäusern begrenzt. Seine Größe und Symmetrie, die architektonische Gestaltung der umstehenden Gebäude und seine Ausstaffierung mit Symbolen weisen den Individuen, die diesen Platz begehen, eine Stelle in einer symbolischen Ordnung zu und verkörpern so auch ein spezifisches Machtgefüge (vgl. Hatuka 2016: 285).

Im Gegensatz zum Platz ist die Straße im städtischen Raum das Produkt der Ausweitung von Siedlungsprozessen. Straßen schaffen ein Bezugsystem für die Verteilung von Land und erlauben den Zugang zu privaten Grundstücken. Meist funktionaler als die repräsentativen Plätze gestaltet sind Straßen Kanäle für den Verkehr und andere Arten von Bewegung. Während die Wohnstraßen vor allem von Anwohnern genutzt werden, sind Einkaufsstraßen belebte Arenen für [343|344] Einwohner und Besucher gleichermaßen und von großer sozioökonomischer Bedeutung (vgl. Hatuka 2016: 286).  

Im Vergleich zu Platz und Straße ist der städtische Park ein relativ junges Phänomen, das sich einerseits der Freigabe königlicher oder fürstlicher Besitztümer für die Öffentlichkeit, andererseits aber auch dem Ziel der Schaffung von städtischen Erholungsräumen für die arbeitende Bevölkerung verdankt. Parks weisen eine hohe formale Variation auf. Anders als Plätze sind sie nicht vollständig offen zum Stadtnetzwerk hin, sondern bilden häufig geschlossene Einheiten (vgl. Hatuka 2016: 286).

Plätze, Parks und Straßen können zu Arenen für Protest werden. Unter dem Begriff der Arena soll dabei eine stabilisierte und ritualisierte Kommunikationskonstellation verstanden werden, die teilweise an feste Örtlichkeiten oder Ortstypen gebunden ist. Mit Tali Hatuka (2016: 289) lassen sich die genannten Arenen hinsichtlich ihres Einflusses auf Protest wie folgt differenzieren.

Platz Straße Park
Gebrauch Treffen Bewegungskanal Erholung
Zentraler Wert Symbolisch Funktional Freizeit
Räumliche Definition innerhalb der Stadt Unterbrechung im Stadtnetzwerk Stadtnetzwerk Eine isolierte, eingeschlossene Unterbrechung innerhalb des Stadtnetzwerks
Einfluss auf Protest Statische Versammlungen, umkämpfte Zeichen, Kapselung, die das Gefühl von rituell hergestellter Solidarität erhöht Dynamische Märsche, Anwachsen der Menge, Erhöhung des Wirkungsgrades durch Zusammentreffen mit Passanten, Lähmung des Stadtnetzwerks Großereignisse, festivalartig, minimale Beeinträchtigung der täglichen Dynamik der Stadt

 

5. Fallstudien

Im Folgenden sollen drei Protestformen exemplarisch daraufhin untersucht werden, inwiefern in ihnen öffentlicher städtischer Raum selbst zum Thema wird, indem seine Beschränkungen zum Ausgangspunkt von Protest und Konflikt werden: Der Schwarze Block als Reaktion auf die Einschränkung der Anonymität, die Platzbesetzungen als Konflikt um die Einschränkung der Zugänglichkeit und [344|345] um die Möglichkeiten der Aneignung von Raum und schließlich die Schaffung Temporärer Autonomer Zonen durch die Reclaim-the-Streets-Bewegung als Protestpraktik gegen die Einschränkungen der Verhaltensoffenheit und damit auch der Rollenvielfalt in öffentlichen Räumen. Die Beispiele decken die im vorangegangenen Abschnitt skizzierten zentralen städtischen Protestarenen ab: die Besetzung wird auf dem Platz oder dem Park vollzogen, der Schwarze Block bewegt sich auf der Straße und die Schaffung Temporärer Autonomer Zonen vollzieht sich im Prinzip in allen Arenen städtischer Öffentlichkeit. Öffentlichkeit wird damit nicht als Bedingung für Protest betrachtet, vielmehr sind der Protest und die Reaktionen auf ihn Praktiken, in denen konkurrierende Konzepte von Öffentlichkeit ausagiert werden und in denen damit auch städtischer Raum auf unterschiedliche Weisen hergestellt wird.

5.1 Der Schwarze Block: Anonymität, Kollektivierung und Bewegung

Beim Schwarzen Block handelt es sich um keinen Verein und keine Gruppe, kein Netzwerk und keine terroristische Vereinigung, sondern um eine Protestpraktik. Der kanadische Politikwissenschaftler Francis Dupuis-Déri definiert den Schwarzen Block als eine kollektive Handlungsform mit einer hochspezifischen Taktik, bei der sich Demonstranten in Gruppen so bewegen, sodass der Eindruck eines festen schwarzen Blocks entsteht, in dem jeder seine Anonymität dadurch wahrt, dass er sich von Kopf bis Fuß in Schwarz kleidet und maskiert eine Identifikation verhindert2. Die Definition benennt also den Aspekt der Vermummung, der Uniformisierung und Kollektivierung sowie der Bewegung als zentrale Eigenschaften dieser kollektiven Handlungsform.

Ihre Entstehung wird in Deutschland in den frühen 1980er Jahren verortet. Insbesondere in der Hausbesetzerszene in West-Berlin und Frankfurt, aber auch bei Teilen der Anti-Atomkraft-Bewegung und der sich formierenden Autonomen wurde das Verbergen des Gesichts mittels Skimaske, Motorradhelm oder Palästinensertuch zu einer Routinepraxis bei Demonstrationen (Haunss 2016: 415). Die Vermummung wird einerseits als Folge der verstärkten Öffnung eines Protestmilieus hin zur illegalen Gewaltausübung bei Demonstrationen gedeutet. Demnach sollte die durch die Vermummung und Uniformität erzeugte Anonymität [345|346] für einen Schutz vor Strafverfolgung sorgen. Andererseits wird die Vermummung aber auch als Reaktion auf das in den 1970er Jahren einsetzende Filmen von Demonstrationen durch die Polizei interpretiert (Haunss 2016: 415f.).

Die Praxis des Filmens des Demonstrationsgeschehens durch die Polizei bewegte sich in einer rechtlichen Grauzone. Das Versammlungsrecht erlaubt Bild- und Tonaufnahmen von Versammlungen nur unter der Voraussetzung, dass „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“ (§12a Abs. 1 VersG). Durch das Filmen wird also das Demonstrationsgeschehen zu einer erheblichen Gefahr, Demonstrierende zu potentiellen Straftätern und die Straße als städtische Arena des Protests zu einem gefährlichen Ort erklärt. Eine solche Konstruktion des öffentlichen Raums lässt die Deanonymisierung der Versammlungsteilnehmenden als logische Folge erscheinen.

Das Bundesverfassungsgericht stärkte im sog. Volkszählungsurteil (BVerfG 65, 1) das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, was zur Folge hatte, dass in späteren Urteilen die Möglichkeiten zur Videoaufzeichnung und damit die Möglichkeit der nachträglichen Identifizierung der Teilnehmenden stark eingeschränkt wurde, weil dies potentielle Versammlungsteilnehmende von der Wahrnehmung ihrer Grundrechte abschrecken könne (Ullrich 2014: 41f.).3 Die Praktik des Vermummens kann damit auch als Gegenwehr gegen eine hegemoniale Konstruktion des öffentlichen Raums gedeutet werden, der durch die Vermummung ein Raumkonzept gegenübergestellt wird, in dem die Anonymität ein zentrales Merkmal von Öffentlichkeit ist. Die in den 1980er Jahren beschlossenen Vermummungsverbote in vielen Ländern, darunter auch in Deutschland (1985), haben dazu geführt, dass die Formen der Vermummung sich geändert haben: Durch das Tragen von Hoodies, Basecaps, Schals und Sonnenbrillen, die Kopf und Gesicht weitgehend verdecken, wird das Vermummungsverbot unterlaufen. Nach Inkrafttreten dieses Gesetzes konnte freilich die Praktik des Vermummens erst recht zu einem Akt des Widerstands gegen eine Einschränkung von Öffentlichkeit und gegen eine Einschränkung der Funktionen des öffentlichem Raums stilisiert werden.

Es hieße allerdings, die symbolischen und performativen Dimensionen der Vermummung zu vernachlässigen, wollte man sie allein als Protest gegen eine hegemoniale Raumkonstruktion deuten. In symbolischer Hinsicht hat die Vermummung [346|347] eine lange Geschichte, in der sie das Kennzeichen der Räuber, der Outlaws und der politischen Geheim-, Guerilla- und Terrororganisationen (vom Ku Klux Klan bis hin zur kollektiven Figur des zapatistischen Subcomandante Marcos) war. Aber auch in der Populärkultur gehört die Vermummung seit dem frühen 20. Jahrhundert zum Insignium der heldenhaften Kämpfer für Gerechtigkeit auch jenseits der Gesetze, seien es Zorro oder Superhelden wie Batman. Entsprechend stellt der Bewegungsforscher Sebastian Haunss (2014: 416) fest, dass die Vermummung „an expression of the willingness to disrespect the legal constraints and to use violence“ darstelle.

Diese Signalisierung der Bereitschaft zum Kampf und die dadurch intendierte Einschüchterung von Feinden wird jedoch nicht durch die Vermummung des Einzelnen erreicht, sondern durch den kollektiven Akt der Unkenntlichmachung durch eine Art der Uniformierung. Dadurch, dass viele Akteure sich einheitlich in Schwarz kleiden, ihre Haare unter Mützen und Kapuzen verbergen, ihre Gesichter mittels dunklen Sonnenbrillen und hochgezogenen Schals und Tüchern teilweise bedecken, entsteht als performativer Effekt ein bedrohlicher Massenkörper. Dieser Körper wird in Demonstrationszügen häufig durch Transparente umschlossen und so vom restlichen Demonstrationszug abgegrenzt. Die Teilnehmenden am Schwarzen Block laufen meist dicht gedrängt. Sie schaffen so einen Raum, der einerseits Sicherheit vor potentiellen Zugriffen der Polizei gewährt, der andererseits aber auch signalisiert, dass kein Austausch mit ihm möglich ist und er sich nicht in die sonstige Raumordnung integrieren lässt.

Zwar ist im Schwarzen Block wie bei allen Demonstrationen das Gehen als Raumaneignung deutbar. Bedeutender ist jedoch, dass sich der Schwarze Block auch mit Gewalt gegen den öffentlichen Raum selbst richtet. Haunss erklärt dies damit, dass das Versprechen des Einsatzes von Gewalt wirkungslos zu werden drohe, wenn es nicht irgendwann eingelöst wird (vgl. Haunss 2016: 416). Aus Sicht der Polizei sind Verwaltungsgebäude, Unternehmenssitze und Werbetafeln häufig Ziele physischer Gewalt durch die Teilnehmenden am Schwarzen Block. Im Demonstrationsgeschehen bestehen „offensive Black Bloc tactics […] in damaging specific types of street furniture, defacing advertising or spray-painting graffiti to convey political messages.“ (Cantiteau 2016: 2)

Die kollektive Aktionsform des Schwarzen Blocks wird von den Teilnehmenden also in vielfacher Hinsicht dazu genutzt, dem hegemonialen öffentlichen Raum im Protesthandeln einen alternativen öffentlichen Raum entgegenzustellen: durch Beharren auf der Anonymität mittels Vermummumg, durch Formung eines dem Zugriff Dritter entzogenen Gegen-Raums und durch physische Umgestaltung und Aneignung. [347|348]

5.2 Platzbesetzungen und die Krise der Repräsentation: Occupy, Tahrir und 15M

Auch wenn das Bedeutungsspektrum von „besetzen“ neben Eroberung, Inbesitznahme und Beherrschung auch die Dimension der Kontrolle des besetzen Raums umfasst, so zielten die Platzbesetzungen, wie sie im Rahmen der Occupy-Bewegung, der Proteste auf dem Tahrir-Platz gegen den ägyptischen Präsidenten Mubarak oder des Movimiento 15-M in Spanien durchgeführt wurden, nicht auf eine Regulierung, sondern auf eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten auf den besetzten Plätzen. Waren die symbolisch aufgeladenen Plätze vorher zentrale Verkehrsknoten, Orte des Handels und der Repräsentation, wurden sie im Rahmen der Besetzungen zu Wohnorten (Einrichtung von Küchen und Schlafzelten), zu Orten der Erholung (Entspannungszelte), der Bildung und der Kommunikation (Bibliotheken, Bühnen, Foren) (vgl. Abou El Fadl 2014). Die Platzbesetzungen können damit als Kritik an der Einschränkung der Zugänglichkeit und der Möglichkeiten der Aneignung öffentlichen Raums gedeutet werden, als der Entwurf eines alternativen Raums.

Die Besetzung ist dabei zu unterscheiden von der Versammlung und der Kundgebung. Im Unterschied zur Versammlung sozialer Bewegungen, die der Koordination von Protesthandeln oder der Organisation des Zusammenlebens in alternativen Räumen wie besetzten Häusern dient, bestehen bei der Besetzung deutlich niedrigere Hürden für die Partizipation (Teune 2012: 32). Während die Voraussetzung zur Teilnahme an der Versammlung eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder eine Identifizierung mit einem bestimmten politischen Ziel voraussetzt, macht die Besetzung den Platz zu einer Plattform unterschiedlichster politischer Strömungen und Ansichten, die nur die Zustimmung zur Besetzung überhaupt zur Bedingung der Teilnahme macht – und nicht einmal das, denn auch Kritikerinnen und Kritiker sind willkommen. Im Unterschied zur Kundgebung auf einem Platz im Rahmen eines Protestereignisses, bei der der Platz zeitlich begrenzt als Bühne für einen vorher festgelegten Kommunikationszweck genutzt wird, ist die Besetzung auf Dauer angelegt und emergent hinsichtlich der an der Kommunikation Beteiligten sowie hinsichtlich der Inhalte der Kommunikation.

Zudem werden Versammlungen und Kundgebungen von Organisationen oder netzwerkartigen Bündnissen organisiert und verantwortet, die häufig auch die Infrastruktur, etwa in Form von Bühnen oder Verstärkeranlagen, stellen. Im Gegensatz dazu können Platzbesetzungen auch ohne Organisationsbündnisse und zentrale Infrastrukturen auskommen. Die Selbstorganisation über soziale Netzwerke war ein charakteristisches Merkmal der hier betrachteten Platzbesetzungen. Die Teilnehmenden waren sogar teilweise ausdrücklich anti-insitutionell [348|349] und anti-repräsentativ eingestellt. So stellt der Bewegungsforscher Simon Teune fest: „Nicht nur Parteien, sondern auch andere politische Organisationen waren auf vielen Plätzen unerwünscht“ (Teune 2012: 33). Empirische Untersuchungen zur Bewegung 15. Mai (15M / Indignados) kamen zu dem Ergebnis, dass die Teilnehmenden „frustrated with the current forms of representative democracy“ waren. „They ask for a more direct democracy by the people, where their voice is heard in all decision-making, not only at the ballot box once every four years." (Likki 2012: 11) Diese Haltung verdichtete sich zum populären Slogan „No nos representan" („sie repräsentieren uns nicht").

Den so wahrgenommenen Defiziten repräsentativer Demokratie hinsichtlich der Partizipation an Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen stellten die Besetzerinnen und Besetzer performative Praktiken direkter Demokratie als Präsenzdemokratie der Körper entgegen (vgl. Tsomou 2014: 127). Der besetzte Platz bekam so die Funktion einer Agora, dem zentralen Platz und Versammlungsort der Bürger in der griechischen Polis (vgl. Schäfers 2008: 33), er wurde zu einem temporären Raum „demokratischen Experimentierens“, in dem sich die Menschen „als Subjekte der Politik“ erfahren konnten (Teune 2012: 32f).

Neben den basisdemokratischen Praktiken war es aber auch gerade der Vollzug von Alltagspraktiken des privaten Lebens auf dem besetzten Platz wie dem Schlafen oder Waschen, die eine Transformation des städtischen Raums bewirkten. Auf diese Dimension hat insbesondere Judith Butler im Rahmen einer 2011 gehaltenen Vorlesung in Venedig hingewiesen, deren Transkript Eingang in einen Reader von #Occupy Los Angeles gefunden hat. Sie deutet die performative Aufhebung des Unterschieds zwischen Privatem und Öffentlichem als Kennzeichen revolutionärer Situationen: „Sleeping on that pavement was not only a way to lay claim to the public, to contest the legitimacy of the state, but also quite clearly, a way to put the body on the line in its insistence, obduracy and precarity, overcoming the distinction between public and private for the time of revolution.“ (Butler 2011: 12) Die Darstellung dieser Praktiken in den globalen Medien erweiterte in Butlers Deutung den Raum auf eine Weise, der im Fall des Tahrir-Platzes das System zum Kollabieren brachte.

Die Platzbesetzung als Protestform hat also das Potenzial, Plätze in Orte direktdemokratischer Öffentlichkeit zu verwandeln, die frei sind von Einschränkungen der Zugänglichkeit und der Partizipation. Durch die performative Aufhebung des Unterschieds zwischen privatem und öffentlichem Raum entsteht ein neuer Raumtyp. So kann der Platz zu einem Ort der Verhandlung elementarer Forderungen und zum Ausgangspunkt fundamentaler Wandelprozesse werden. [349|350]

5.3 Reclaim the Streets und das Konzept der temporären autonomen Zone

Reclaim the Streets ist die Bezeichnung für eine Protestform, in deren Vollzug sich eine Gruppe öffentlichen Raum vorübergehend aneignet, d.h. ihn durch performative Handlungen so konstruiert, dass er sich herkömmlichen Strukturen der Kontrolle entzieht (vgl. Gray 2001: 47). Sie kann damit als Reaktion auf die Einschränkungen der Verhaltensoffenheit und damit auch der Rollenvielfalt im öffentlichen Raum gedeutet werden. Beispiele sind spontane Straßenparties mit teils aufwändigen Umgestaltungen der Möblierung des öffentlichen Raums (etwa dem Anlegen von Sandkästen für Kinder), um den Verkehr zu blockieren, Tanzguerilla-Aktionen, bei denen in U-Bahnen, Supermärkten, in Einkaufszentren oder auf Straßen und Plätzen wie aus dem Nichts eine große Gruppe von Menschen plötzlich zu tanzen beginnt, oder die unter dem Namen Critical Mass durchgeführten Fahrradtouren größerer Gruppen auf viel befahrenen Autostraßen mit der Folge der Störung des Berufsverkehrs.

Reclaim the Streets beruht auf dem Konzept der Temporären Autonomen Zonen, das 1985 von dem amerikanischen Anarchisten Peter Lamborn Wilson unter dem Pseudonym Hakim Bey in seinem Buch „T.A.Z.: The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism“ (Bey 1985, dt. 1994) entwickelt wurde (vgl. Anders 2016). Er versteht darunter Aktionsformen, die insofern verborgen vor den Augen eines allmächtigen Staates sind, als sie aus dessen kategorialem Wahrnehmungsraster herausfallen. „Getting the TAZ started may involve tactics of violence and defense, but its greatest strength lies in its invisibility — the State cannot recognize it because History has no definition of it. As soon as the TAZ is named (represented, mediated), it must vanish, it will vanish, leaving behind it an empty husk, only to spring up again somewhere else, once again invisible because undefinable in terms of the Spectacle.“ (Bey 1985: 128f.) Dies kann einerseits zeitlich sehr kurze, spontan wirkende Aktionen umfassen. Bey subsummiert aber durchaus auch längerfristige Aktionsformen, die sich der traditionellen Semantik entziehen, unter dem Begriff. Anders als der Schwarze Block, der auf eine Konfrontation mit staatlichen Organen zielt, entzieht sich die Temporäre Autonome Zone dem Staat. Bey vergleicht sie mit einem Aufstand, „which does not engage directly with the State, a guerilla operation which liberates an area (of land, of time, of imagination) and then dissolves itself to re-form elsewhere/elsewhen, before the State can crush it.“ (Bey 1985: 127f.) Autonom ist die Zone also insofern, als sie befreit ist vom Durchgriff staatlichen Handelns, als in ihr ein Vorgeschmack auf eine künftige freie Kultur möglich ist: „The TAZ is thus a perfect tactic for an era in which the State is omnipresent and all-powerful and yet simultaneously riddled with cracks and vacancies. [350|351] And because the TAZ is a microcosm of that ‚anarchist dream‘ of a free culture, I can think of no better tactic by which to work toward that goal while at the same time experiencing some of its benefits here and now.“ (Bey 1985: 128)

Temporäre Autonome Zonen sind damit das Ausagieren eines Gegenraumes. Sie haben das Potenzial, Utopien eine – wenn auch nur temporäre, so doch immerhin konkrete – Gestalt zu geben. In ihnen können Gegenwirklichkeiten simuliert und ausagiert werden, Freiräume, in denen die Gesetzlichkeiten der Alltagswelt keine Gültigkeit haben. Sie schaffen damit eine Wirklichkeit, in der die Geltungsansprüche staatlicher Institutionen strittig sind. Dieses Ausagieren, dieser Vorgriff auf eine Utopie im Hier und Jetzt hat durchaus eine hedonistische Dimension („experiencing some of its benefits here and now“, vgl. hierzu auch Klimke / Scharloth 2010). Die Temporäre Autonome Zone hat aber auch das Potenzial, die Wahrnehmung der Wirklichkeit und die Prozeduren ihrer Erzeugung durch Dritte zu verändern. Dies hat seine Ursache darin, dass performatives Handeln nicht nur performativ in dem Sinn ist, dass es eine bestehende Ordnung reproduziert oder soziale Wirklichkeit hervorbringt, d.h. faktitiv ist; performatives Handeln hat auch eine metaperformative Dimension: Es legt die Konventionen und Prozeduren der Hervorbringung konventioneller Zustände fest. Dadurch, dass in Störungen auch diejenigen, die sie nicht intendieren, gezwungen werden, aus ihrer Rolle herauszutreten, und durch die Aktion zum Akteur in einer entritualisierten Situation werden, kommt ein kaum zu steuernder Prozess von Aktion und Reaktion in Gang, in dem die alltagsweltlichen Prozeduren der Sinnerzeugung potentiell Gegenstand von Aushandlungen werden. Die Verletzung der mittels ritualisierter Praktiken hergestellten Ordnung durch die Aktivisten und die Reaktion der durch die Aktion zum Akteur gemachten Dritten machen allen Handelnden erfahrbar, worauf Ordnung in dieser konkreten Situation beruht und wie sie im Allgemeinen hergestellt wird (vgl. Scharloth 2011: 171).

Auch der Raum wird durch Temporäre Autonome Zonen seiner rituellen Selbstverständlichkeit, seiner Objektivität und damit seiner Faktizität beraubt. Er wird der kritischen Analyse nicht nur zugänglich, vielmehr wird er durch die Aktion als strittig konstituiert. Temporäre Autonome Zonen aktualisieren so Konflikte um die Regulierung des öffentlichen Raums. Reclaim the Streets entwickelte sich „within and against the neoliberal city, seeking to contest and challenge some of its most defining principles of urban production and organization“(Carmo 2013: 105). Die Aktionsformen sind gegen das neoliberale Narrativ der creative city gerichtet, werden von diesem aber auch immer schon vereinnahmt. [351|352]

 

6. Fazit

Stadt wird überall dort zum Protestraum, wo ihre Funktion als öffentlicher Raum prekär geworden ist. Wo Anonymität, Zugänglichkeit sowie Verhaltensoffenheit und Rollenvielfalt beschränkt werden, kann sich Protest kristallisieren. Dieser Protest verweist zwar immer auch auf die Stadt als Raum, setzt dem hegemonialen, als neoliberal geframeten Raum einen alternativen Raum entgegen und lässt wie im Fall von Reclaim the Street auch die Konstitutionsbedingungen des städtischen Raums reflexiv werden.

Allerdings verweisen die unterschiedlichen Formen der Aneignung von Straßen, Plätzen und Parks im Rahmen der vorgestellten Protestpraktiken darüber hinaus auf Konflikte um Öffentlichkeit, Partizipation und die Konstitution des Politischen schlechthin. Durch Protest wird der städtische Raum zum politischen Raum, zum Raum einer präfigurativen Politik für einen anderen Raum, aber auch für eine andere gesellschaftliche Ordnung.

 

Literatur

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Fußnoten