Joachim Scharloth
Professor für Sprachwissenschaft, Dokkyo Universität, Tokyo
Sprachgeschichte des 18. Jahrhunderts
Dissertation:
Sprachnormen und Mentalitäten.
Sprachbewusstseinsgeschichte zwischen 1766 und 1785.
Tübingen: Niemeyer 2005. (= RGL 255)
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1. Eine Appelation der Vokale
In seiner 1778 erschienen Streitschrift "Appellation der Vokalen an das
Publikum" gab der Publizist, Literat und Pädagoge Johann Carl Wezel seiner
Befürchtung Ausdruck, "die Götterlippen der deutschen Dichter" würden bald
"in der lieblichen Sprache der Schuhflickermädchen zu Sachsenhausen am Mayn,
oder der Darmstädter Schornsteinfeger ertönen" und "deutsche Redner mit der
nervösen angenehmen Beredsamkeit einer löblichen Schneiderzunft in Schwaben
peroriren". (Wezel, Kritische Schriften 1971/75, II, S. 636f) Es war die Würde der hochdeutschen
Schriftsprache, die dem Aufklärer durch den volkstümelnden und
arachisierenden Sprachgebrauch der Schriftsteller des Sturm und Drang, der
Barden- und Volksdichtung gefährdet schien. Sollten diese Autoren auf die
Normierung des Hochdeutschen Einfluss gewinnen, so lässt sich Wezels
polemischen Einlassungen entnehmen, sei das aufklärerische Projekt der
Kultivierung des Hochdeutschen zum Scheitern verurteilt und die deutsche
Sprache werde in der Zukunft untauglich für Wissenschaft, höhere Kunst und
Philosophie. Deutschland werde "vor den Ländern aller Zonen den Vorzug haben, daß das Publikum seiner
Schriftsteller einzig aus dem Volke, das heißt, aus Handwerksburschen und
Obstkrämerinnen besteht, daß seine Skribenten den besten und edelsten Theil
der Nation seine Zuflucht zur fremden Litteratur zu nehmen zwingen, und
ihren Ruhm auf den Beyfall der Leute einschränken, mit denen sie Eine
pöbelhafte Sprache reden." (Wezel, Kritische Schriften 1971/75, II, S. 636f)
2. Sprachnormierung im 18. Jahrhundert
Das allgemeine Thema der Arbeit ist die Rekonstruktion des Denkens über
Sprache in jenem Zeitraum der deutschen Sprachgeschichte, der für gewöhnlich
mit der einheitlichen Kodifizierung einer schriftsprachlichen Norm des
Neuhochdeutschen identifiziert wird. Der sprachreflexive Diskurs der Jahre
zwischen 1765 und 1785 wird von der Frage der Sprachnormierung dominiert.
Auch wenn sich einzelne sprachreflexive äußerungen nicht auf das Hochdeutsche
beziehen, so werden sie meist aber doch im Hinblick auf dessen infrage
stehende Norm geäußert. Aussagen etwa zur Sprachgeschichte des Deutschen
haben häufig legitimatorische Funktion für Sprachnormierungskonzepte, und
Aussagen zu einzelnen Dialekten thematisieren die These vom Vorrang des
sächsisch-meißnischen Dialekts als Leitvarietät. Das folgende Zitat aus
Christian Friedrich Daniel Schubarts "Deutscher Chronik", in der ein
(möglicherweise fiktiver) "reisender Gelehrter" seine Eindrücke von Zürich
schildert, verdeutlicht dies:
"Ich habe zu meinem Erstaunen auch große Bibliotheken bey Privatpersonen
angetroffen, in der Stadt und auf dem Lande. Die französische Literatur ist
beynahe bloß ein Eigenthum der Schmetterlingswelt. Männer lesen griechisch,
englisch und deutsch. Letzteres schreiben sie so körnicht, so antik, daß ich
Schweizerdeutsch noch immer dem französirenden Sachsendeutsch und der
geleckten Brandenburgersprache vorziehe." (Deutsche Chronik 1774, 219.)
3. Die Frage der Leitvarietät
Was heute als teleologischer Prozess hin zu einer Norm des Hochdeutschen
erscheinen mag, stellte sich den Zeitgenossen als ein Prozess der Aushandlung
mit offenem Ergebnis dar, in dem freilich nicht notwendig dem vernünftigen
Argument der Vorzug gegeben wurde, sondern statt dessen häufig ideologische
und institutionelle Gründe entscheidendes Gewicht hatten. Normenformulierung
und vehemente Normenkritik gingen Hand in Hand. Der Diskurs über die Frage,
was Hochdeutsch sowohl ideell als auch konkret sei, war nicht auf die
Vertreter der Sprachkunde allein beschränkt; an diesem Prozess scheinbarer
Aushandlung hatten auch Publizisten und Schriftsteller wie der zitierte Wezel
teil. Die hier vorgenommenen Untersuchungen beschränken sich daher nicht auf
den sprachkundlichen Diskurs, sondern beziehen den literarisch-publizistischen
Diskurs über die Normierung des Hochdeutschen systematisch mit ein. Sie sind
damit eine Untersuchung des Denkens über die Frage der Normierung des
Hochdeutschen der an der Sprachnormendebatte beteiligten Publizisten. Diese
Ausweitung der Perspektive kann auch insofern gerechtfertigt werden, als in
beinahe allen Sprachnormentheorien der "Büchersprache" allgemein und der
Literatursprache im besonderen der Status einer Leitvarietät zuerkannt wurde.
Der Grammatiker Johann Friedrich Heynatz etwa schätzte den Einfluss der
Grammatikographie im Verhältnis zu dem der Schriftsteller als sehr gering
ein, wie das folgende Zitat aus seinen "Briefen, die deutsche Sprache
betreffend" (1771) belegt: "Die Hochdeutsche Sprache, so wie sie in Schriften
lebt, ist das allgemeine Muster, nach welchem sich alle [...] zu richten
schuldig sind. Der Sprachlehrer [...] kann wenig oder nichts entscheiden,
wenn er den Gebrauch guter Schriftsteller gegen sich hat." (Heynatz, Briefe 1771/1776,
I, S. 34.) Publizisten und Literaten schrieben also im Bewusstsein ihrer
Vorbildwirkung und damit im Bewusstsein ihres Einflusses auf die Normierung
der Schriftsprache und leiteten daraus ein Recht ab, sich auch explizit an
der Sprachnormierungsdebatte zu beteiligen.
4. Mentalitäre Bedingungen der Sprachnormierung
Sucht man nun in dem oben zitierten anonymen Text aus der "Deutschen Chronik"
nach Gründen für die Bevorzugung des Schweizerdeutschen und die Abwertung des
Sächsischen, so fällt auf, dass das Schweizerdeutsche durch die attributiven
Adjektive "körnicht" und "antik" charakterisiert, das Sächsische hingegen
als "französirend", das Brandenburgische als "geleckt" bezeichnet wird.
Thematisiert werden also keine tatsächlichen sprachkundlichen Befunde, sondern
unterstellte Eigenschaften der jeweiligen Varietäten, die sich einer
intersubjektiven überprüfung entziehen. Die Bewertung spielt nämlich
offenkundig nicht allein auf das Sprachsystem und seine kommunikative
Funktionalität an, sondern zielt auf die Sprache als Symbol einer
soziokulturellen Identität. Dies wird deutlich, zieht man einen weiteren
Text aus Schubarts "Deutscher Chronik" heran, der einer Theaterkritik
entnommen ist: "Sachsen hat schon offt den verdorbenen Geschmack in Deutschland hergestellt;
aber offt auch sehr vieles durch seine übertriebene Verfeinerungssucht
verdorben. Man denke an Bodmers und Gottscheds Zeiten. Jetzt wandeln sie
wirklich auf einer Straße, die gar nicht deutscher Fahrweg ist. Französische
Carossen rollten drauf, man sieht's an den seichten Furchen. Unausstehlich
sind ihre meiste komische Opern. Naseweisheit heißen sie Naivetät, und
Ungezogenheit ländliche Sitte. Ihre Romanzen und Arien haben alle einen so
einförmigen Zuschnitt, daß es dem ächten deutschen Leser drob eckelt. Ihr
Deutsch ist zwar rein; Wasser aber ist noch reiner, und stärkt doch den
Magen nicht." (Deutsche Chronik 1774, 349f.) 5. Ergebnisse
Die Debatte um die Normierung des Hochdeutschen kann im Zeitraum zwischen
1765 und 1785 nur vor dem Hintergrund des kulturkritischen Diskurses
verstanden werden. So wurde im dominanten Diskurs die sächsisch-meißnische
Mundart deshalb zur Leitvarietät erklärt, weil Obersachsen als Zentrum der
Wissenschaften und Künste und die Beschaffenheit der Sprache als Bedingung
und Ausdruck dieser kulturellen Blüte galt. Dagegen wertete man die
oberdeutschen Provinzen als kulturell rückständig und ihre Sprache als
wenig ausgebaut und für Wissenschaften und schöne Künste untauglich. Auch
den Vertretern der Gegendiskurse galten die süddeutschen Provinzen als
kulturell weniger entwickelt als Sachsen, allerdings deuteten sie diesen
Umstand anders als die Vertreter des dominanten Diskurses. Statt die
Vorbildlichkeit der sächsischen Kultur anzuerkennen, werteten sie diese als
dekadent ab. Sachsen nämlich galt ihnen als Zentrum der Nachahmung
französischer Sitten. Daher identifizierten sie die Kultur Sachsens mit
allen negativen Eigenschaften, die der französischen Kultur nachgesagt
wurden und deuteten die dortige sittliche Verfeinerung als überfeinerung
und die Nachahmung fremder Sitten als Entartung. Analog galt ihnen die
obersächsische Mundart als nach französischem Muster ausgebaut. Durch die
deutschlandweite Durchsetzung des "französierenden Sachsendeutsch" als
Hochdeutsch befürchteten sie auch eine weitere Verbreitung französischer
Sitten und Denkweisen. Dagegen glaubten sie in den weniger entwickelten
süddeutschen Provinzen die deutschen Sitten noch rein und unvermischt
vorzufinden. ähnliches galt für die oberdeutschen Dialekte, die die
Vertreter der Gegendiskurse noch nicht durch Entlehnungen aus dem
Französischen korrumpiert sahen. Vielmehr glaubten sie, dass sich die
deutsche Sprache hier noch in ihrer ursprünglichen Reinheit und
Eigentlichkeit bewahrt hätte. Das Sprachnormenkonzept der Gegendiskurse
sah nun vor, die wahren Regeln der deutschen Sprache aus diesen Dialekten,
aber auch aus früheren Sprachstufen zu abstrahieren und das Hochdeutsche um
mundartliches und archaisches Sprachgut zu bereichern. Von einer Hochsprache,
die den ursprünglichen Regeln des Deutschen gemäß war, versprach man sich
einen Beitrag zur sittlichen Erneuerung Deutschlands. Parallel zu diesen
sprachreformatorischen Bemühungen propagierten die Vertreter der
Gegendiskurse nämlich eine Besinnung auf die alten deutschen Sitten, die sie
durch den Einfluss Frankreichs bedroht sahen. Die Kritik des dominanten
Diskurses am Sprachnormenkonzept der Gegendiskurse richtete sich vor allem
gegen diese sittenreformatorische Implikationen. In der Verbreitung einer
mit Archaismen, Vulgarismen und oberdeutschen Dialektismen durchsetzten
Hochsprache sahen sie den kulturellen Fortschritt gefährdet und befürchteten
den Rückfall auf das zivilisatorische Niveau früherer kultureller Stufen.
In dieser Lesart ist die Debatte um die Norm des Hochdeutschen demnach eine
Debatte um die künftige sittliche Verfassung Deutschlands. Dies zeigt sich
auch daran, dass der Streit nur selten mit sprachkundlichen, häufiger
dagegen mit ideologischen Argumenten ausgetragen wurde. Selbst dann, wenn
sprachliche Befunde in die Debatte eingebracht wurden, hatte deren Bewertung
entscheidendes Gewicht. Etwa ist die Konstatierung häufiger Entlehnungen aus
dem Französischen für sich betrachtet kein Grund dafür, dass eine Varietät
nicht als Leitvarietät gelten kann. Erst die Bewertung dieser Entlehnungen
als Symptome einer französischen Hegemonie, durch die deutsche Denk- und
Empfindungsweisen korrumpiert werden, ermöglicht die Ablehnung einer
Varietät als Sprachvorbild. Die Untersuchungen dieser Arbeit haben ergeben,
dass die Schemata, die bei der Bewertung sprachlicher Phänomene und Konzepte
zur Anwendung kamen, dieselben sind, mit denen andere kulturelle Phänomene
und die Kultur als Ganze kategorisiert wurden. So zeigte sich, dass das
Sächsische als "entmannt" charakterisiert wurde und die Kultur, als dessen
Ausdruck es galt, auf dem von der Dichotomie "männlich" vs. "weiblich"
gebildeten semantischen Differnzial auf der Position "weiblich" verortet
wurde, die Wertungen wie überfeinert, schwach und krank konnotierte. Auch
die Kategorisierung der Sprache in den Texten der Gegendiskurse als
"pöbelhaft" verweist auf die diskurssemantische Grundfigur "kultiviert" vs.
"ungebildet", mit der im dominanten Diskurs die Sitten vergangener Epochen
und der unteren Schichten bewertet wurden. Die Einschätzungen von Kultur und
Sprache folgten im untersuchten Zeitraum demnach denselben
Bewertungsschemata. Das Sprachbewusstsein formierte sich in Abhängigkeit der
diskurssemantischen Grundfiguren, die das Wissen über die Kultur im Ganzen
organisierten. Diese diskurssemantischen Grundfiguren steckten das Feld
dessen ab, was über Sprache überhaupt gedacht und gesagt werden konnte.
nach oben Sprachkundliche Zeitschriften zwischen 1766 und 1785 Grammatiken des 18. Jahrhunderts bis 1785 nach oben
Wezel bezieht mit seiner Streitschrift Stellung im Diskurs über die Norm der
hochdeutschen Schriftsprache. Er fällt sein Urteil vom Standpunkt einer Norm,
die von Grammatikern und Lexikographen in den 70er und 80er Jahren des 18.
Jahrhunderts im Anschluss an bestehende Traditionen formuliert und präzisiert
wurde.
Die Tatsache, dass der anonyme Schreiber dieser Zeilen das Schweizerdeutsche
ausgerechnet mit den Dialekten Sachens und Brandenburgs vergleicht und nicht
etwa mit dem Schwäbischen, zeigt, dass er auf die Sprachnormierungsdebatte
Bezug nimmt und hier eine noch weiter zu explizierende Position einnimmt.
Dieser Dominanz des Sprachnormenproblems tragen die Untersuchungen
insofern Rechnung, als sie nur jene Aspekte des Sprachdenkens in den Blick
nehmen, die das Sprachnormenproblem berühren. Sie suchen damit nach den
Antworten des späten 18. Jahrhunderts auf die Frage, die Johann Christoph
Adelung im Jahr 1782 zum Titel eines Aufsatzes in seinem "Magazin für die
Deutsche Sprache" wählte: "Was ist Hochdeutsch?" Dabei wird weniger dessen
konkrete grammatikalische Bestimmung, als vielmehr seine ideelle Konzeption
in den Blick genommen. Gesucht wird also nicht nach der strittigen
Zahl der Ableitungen, den Bestandteilen des hochdeutschen Wortschatzes oder
der korrekten Schreibung und Aussprache in Einzelfällen, sondern nach den
leitenden Prinzipien der Begründung des Hochdeutschen.
Sachsen wird hier mit der Nachahmung der französischen Kultur identifiziert.
Schubart wirft seinen Bewohnern vor, die an französischem Vorbild geschulte
Verfeinerung der Sitten bis zur Aufgabe der eigenen kulturellen Identität
betrieben zu haben. Das Attribut "französirend", mit dem vorher die
sächsische Mundart belegt wurde, wird in diesem Kontext als kulturkritische
Anspielung verständlich. Die sprachreflexiven äußerungen in beiden Zitaten
aus der "Deutschen Chronik" verweisen auf die Einschätzung des sächsischen
Dialekts im Rahmen der sächsischen Kultur.
In beiden Zitaten überlagern sich also der sprachkritische und der
kulturkritische Diskurs. Im Laufe der Untersuchung war zu prüfen, ob
der sprachreflexive Diskurs im Untersuchungszeitraum nicht ausschließlich
Teil des kulturkritischen Diskurses ist, d.h. inwiefern etwa die Einschätzung
des sächsischen Dialekts auch unabhängig von der Bewertung der sächsischen
Kultur erfolgt. Schon hier zeigte sich aber, dass das Wesen der Sprache
nicht das Denken über sie determiniert. Im Gegenteil belegen die diametral
gegensätzlichen Einschätzungen bestimmter Varietäten, dass das Denken über
Sprache ein soziales Konstrukt ist, das mit dem Denken über andere kulturelle
Phänomene eng verknüpft ist. Will man daher spezifische Inhalte des Denkens
über Sprache erklären, ist es notwendig, deren Kontexte mit zu
berücksichtigen.
Die Untersuchung befasst sich also mit dem Denken über Sprache in
allen am sprachreflexiven Diskurs beteiligten Gruppen im Zeitraum von 1766
bis 1785. Untersuchungen zum Sprachdenken verfolgen üblicherweise das Ziel,
das sprachliche Verhalten der Sprecher einer Varietät oder, historisch
gewendet, deren Wandel zu erklären. In dieser Arbeit ist jedoch eine andere
Problemstellung leitend. Sie sucht nach den Ursachen der unterschiedlichen
Positionen, indem sie das Denken über Sprache in den Kontext des Denkens über
andere kulturelle Phänomene stellt. Sie fragt also nicht nur nach dem "was?",
sondern auch nach der Genese des Denkens über Sprache und wirft damit ein bislang
innerhalb der Systematik der Linguistik nur rudimentär behandeltes Problem auf:
"Warum denkt wer in einer bestimmten historisch-sozialen Situation in welcher
Weise über Sprache?"
(Ergänzungen und Korrekturen erbeten!)